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Monsieur Mardi-Gras Unter Knochen: Willkommen


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Rezension von

Frank Drehmel

Willkommen Den Tod hatte sich der Kartograph Victor Tourtelle lebhafter vorgestellt. Nun sitzt er all seines Fleisches beraubt als gescheites, fünfsinniges Skelett inmitten einer unermesslichen Wüste unter einem schwarzen Himmel, an dem ein fahler Mond - oder ist es eine Sonne? - seine Bahn zieht und hadert mit dem Schicksal. Gerade, als er sich ganz der Langeweile der leeren Ödnis ergeben will, taucht am Horizont auf einem Fahrrad ein zweites Skelett auf, das sich als Postbote mit einem wichtigen Einschreiben für den Verstorben vorstellt. Dieser Brief enthält sowohl den neuen Namen, unter dem Tourtelle fortan in seiner neuen Welt wandeln soll - Mardi-Gras Aschermittwoch -, als auch die notwendige Registriernummer, die ihm der feinfühlige Beamte sogleich auf den Hinterkopf stempelt. Immerhin bietet der gute Mann sich an, den Orientierungslosen auf dem Gepäckträger seines Velozipedes mit in die Stadt im Königreich der Tränen zu nehmen. Deren Anblick überwältig den ehemaligen Victor Tourtelle geradezu: Unzählige Skelette drängen sich durch überfüllte Gassen, einem Plan folgend, den er nicht durchschaut, und gigantische Türme unterschiedlichster architektonischer Stile recken sich gen Himmel. Nicht nur, dass in dieser Situation des Staunens und Rätselns sein Führer, der Postbote, urplötzlich verschwunden ist, zusätzlich zieht sich Aschermittwoch durch sein ungestümes Auftreten den Zorn der Mitbürger zu. Die nächste Zeit verbringt er damit, a) den Briefzusteller zu suchen, sowie b) die wichtigsten Regeln seiner neuen Heimstatt zu verinnerlichen, von denen die beiden wichtigsten lauten: Achte auf deine Knochen, denn sie sind alles, was du besitzt, und sie sind bei Verlust oder Beschädigung nicht ohne Weiteres zu ersetzen. Sprich nicht über Kaffee, denn Kaffe ist das, was die Toten am intensivsten und schmerzlichsten an ihr Vorleben erinnert. Und er findet sich in einem Intrigenspiel wieder, in welchem seine Fähigkeiten als Kartograph von zentraler Bedeutung zu sein scheinen. “Mr. Mardi-Gras Decendres 1: Bienvenue” steht ganz in der Tradition des frankobelgischen Autorencomics, d.h. Éric Liberge hat als Autor die Herrschaft über die Geschichte und ist zugleich als Zeichner für ihre grafische Umsetzung verantwortlich. Die damit einhergehende große Chance, ein Comic “wie aus einem Guss” zu kreieren, hat Liberge auf überzeugende Art und Weise genutzt. Er entwirft eine jenseitige Welt, die sich radikal von dem unterscheidet, was sich ein Gläubiger für seine Existenz nach dem Tode erhofft. Das Königreich der Tränen scheint eine Art Limbus zu sein, ein Teil der Hölle, in dem man es sich gemütlichen machen könnte, wären da nicht Vorschriften und Mit-Skelette, die einem das Nach-Leben mit ihren Regeln, ihren Ränkespielen oder ihrer Persiflage einer Religion schwer machten. Der Autor überlässt es dem Leser, (fast) auf Augenhöhe mit Mardi-Gras Aschermittwoch die ersten zaghaften Schritte in ein bizarres Spiegeluniversum zu wagen, das einen Hauch von Dantes “Göttlicher Komödie” und Kafkas “Schloss” atmet, dessen Regeln erst nach und nach offenbar werden und in dem sich bis zum Schluss des vorliegenden Albums nicht abzeichnet, wer an welchen Fäden zieht oder worin die besondere Bedeutung des Kartographen für diese Wesen liegt. Das an Details reiche Artwork Liberges ist hinreißend. Auf der formalen Ebene beschränkt er sich - mit einer einzigen Ausnahme - auf rechteckige, geschlossene Panels, deren freie Anordnung jedoch keiner anderen Vorgabe als der Erzählstruktur folgt. Der Künstler schreckt selbst vor ganzseitigen Zeichnungen nicht zurück, was gerade beim Albengroßformat nicht immer unproblematisch ist, jedenfalls dann nicht, wenn - anders als bei Liberge - die zündende Idee hinter dem Bild fehlt. Die Farbgebung ist durchgehend fast monochrom, d.h. dem Tiefe erzeugenden Schwarz stehen Grautöne - kein Weiß - gegenüber, die extrem verhalten ins Gelbliche, Grünliche, Bläuliche oder Rötliche spielen, wobei deren Nuanciertheit dennoch ausreicht, um eine lebendige Welt abzubilden. Bemerkenswert ist, wie Liberge eine Untiefe des Hintergrundes grafisch gekonnt umschifft: Menschliche Skelette sind von Natur aus für Nicht-Forensiker nur schwer unterscheidbar bzw. überhaupt darstellbar; zudem fehlt es ihrer Physiognomie an Ausdrucksfähigkeit. Des ersten Problems entledigt sich Liberge dadurch, dass er die Figuren mit kleinen Accessoires, Ersatzteilen ausstattet, wobei er dafür storytechnisch die Begründung gleich mitliefert. Das zweite Problem löst er im Wesentlichen durch das Fortlassen der Zähne, sodass er den “Mündern” - neben den Augenhöhlen - die maximale Beweglichkeit bzw. Ausdruckskraft zurückgibt. Die Aufmachung des Comics kann sich zwar nicht ganz mit den kleineren DIN-A5-Hardcover-Bänden des Cross-Cult-Verlags messen - insbesondere fehlt mir ein redaktioneller Teil -, jedoch gehört sie im Album-Markt-Segment zweifellos zur gehobenen Kategorie und weiß insbesondere durch den klaren Druck und die satten “Farben” zu überzeugen. Fazit: Eine humorvoll morbide Geschichte mit ernstem Unterton und ein leichtes, hinreißendes Artwork machen Liberges Comic zu einer Empfehlung für jeden Freund des gehaltvoll Makabren.

Den Tod hatte sich der Kartograph Victor Tourtelle lebhafter vorgestellt. Nun sitzt er all seines Fleisches beraubt als gescheites, fünfsinniges Skelett inmitten einer unermesslichen Wüste unter einem schwarzen Himmel, an dem ein fahler Mond - oder ist es eine Sonne? - seine Bahn zieht und hadert mit dem Schicksal. Gerade, als er sich ganz der Langeweile der leeren Ödnis ergeben will, taucht am Horizont auf einem Fahrrad ein zweites Skelett auf, das sich als Postbote mit einem wichtigen Einschreiben für den Verstorben vorstellt. Dieser Brief enthält sowohl den neuen Namen, unter dem Tourtelle fortan in seiner neuen Welt wandeln soll - Mardi-Gras Aschermittwoch -, als auch die notwendige Registriernummer, die ihm der feinfühlige Beamte sogleich auf den Hinterkopf stempelt. Immerhin bietet der gute Mann sich an, den Orientierungslosen auf dem Gepäckträger seines Velozipedes mit in die Stadt im Königreich der Tränen zu nehmen.

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Nicht nur, dass in dieser Situation des Staunens und Rätselns sein Führer, der Postbote, urplötzlich verschwunden ist, zusätzlich zieht sich Aschermittwoch durch sein ungestümes Auftreten den Zorn der Mitbürger zu. Die nächste Zeit verbringt er damit, a) den Briefzusteller zu suchen, sowie b) die wichtigsten Regeln seiner neuen Heimstatt zu verinnerlichen, von denen die beiden wichtigsten lauten: Achte auf deine Knochen, denn sie sind alles, was du besitzt, und sie sind bei Verlust oder Beschädigung nicht ohne Weiteres zu ersetzen. Sprich nicht über Kaffee, denn Kaffe ist das, was die Toten am intensivsten und schmerzlichsten an ihr Vorleben erinnert. Und er findet sich in einem Intrigenspiel wieder, in welchem seine Fähigkeiten als Kartograph von zentraler Bedeutung zu sein scheinen.

“Mr. Mardi-Gras Decendres 1: Bienvenue” steht ganz in der Tradition des frankobelgischen Autorencomics, d.h. Éric Liberge hat als Autor die Herrschaft über die Geschichte und ist zugleich als Zeichner für ihre grafische Umsetzung verantwortlich. Die damit einhergehende große Chance, ein Comic “wie aus einem Guss” zu kreieren, hat Liberge auf überzeugende Art und Weise genutzt.

Er entwirft eine jenseitige Welt, die sich radikal von dem unterscheidet, was sich ein Gläubiger für seine Existenz nach dem Tode erhofft. Das Königreich der Tränen scheint eine Art Limbus zu sein, ein Teil der Hölle, in dem man es sich gemütlichen machen könnte, wären da nicht Vorschriften und Mit-Skelette, die einem das Nach-Leben mit ihren Regeln, ihren Ränkespielen oder ihrer Persiflage einer Religion schwer machten.

Der Autor überlässt es dem Leser, (fast) auf Augenhöhe mit Mardi-Gras Aschermittwoch die ersten zaghaften Schritte in ein bizarres Spiegeluniversum zu wagen, das einen Hauch von Dantes “Göttlicher Komödie” und Kafkas “Schloss” atmet, dessen Regeln erst nach und nach offenbar werden und in dem sich bis zum Schluss des vorliegenden Albums nicht abzeichnet, wer an welchen Fäden zieht oder worin die besondere Bedeutung des Kartographen für diese Wesen liegt.

Das an Details reiche Artwork Liberges ist hinreißend. Auf der formalen Ebene beschränkt er sich - mit einer einzigen Ausnahme - auf rechteckige, geschlossene Panels, deren freie Anordnung jedoch keiner anderen Vorgabe als der Erzählstruktur folgt. Der Künstler schreckt selbst vor ganzseitigen Zeichnungen nicht zurück, was gerade beim Albengroßformat nicht immer unproblematisch ist, jedenfalls dann nicht, wenn - anders als bei Liberge - die zündende Idee hinter dem Bild fehlt.

Die Farbgebung ist durchgehend fast monochrom, d.h. dem Tiefe erzeugenden Schwarz stehen Grautöne - kein Weiß - gegenüber, die extrem verhalten ins Gelbliche, Grünliche, Bläuliche oder Rötliche spielen, wobei deren Nuanciertheit dennoch ausreicht, um eine lebendige Welt abzubilden.

Bemerkenswert ist, wie Liberge eine Untiefe des Hintergrundes grafisch gekonnt umschifft: Menschliche Skelette sind von Natur aus für Nicht-Forensiker nur schwer unterscheidbar bzw. überhaupt darstellbar; zudem fehlt es ihrer Physiognomie an Ausdrucksfähigkeit. Des ersten Problems entledigt sich Liberge dadurch, dass er die Figuren mit kleinen Accessoires, Ersatzteilen ausstattet, wobei er dafür storytechnisch die Begründung gleich mitliefert. Das zweite Problem löst er im Wesentlichen durch das Fortlassen der Zähne, sodass er den “Mündern” - neben den Augenhöhlen - die maximale Beweglichkeit bzw. Ausdruckskraft zurückgibt.

Die Aufmachung des Comics kann sich zwar nicht ganz mit den kleineren DIN-A5-Hardcover-Bänden des Cross-Cult-Verlags messen - insbesondere fehlt mir ein redaktioneller Teil -, jedoch gehört sie im Album-Markt-Segment zweifellos zur gehobenen Kategorie und weiß insbesondere durch den klaren Druck und die satten “Farben” zu überzeugen.

Fazit: Eine humorvoll morbide Geschichte mit ernstem Unterton und ein leichtes, hinreißendes Artwork machen Liberges Comic zu einer Empfehlung für jeden Freund des gehaltvoll Makabren.

geschrieben am 02.10.2008 | 732 Wörter | 4430 Zeichen

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