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Kindeswohl


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Rezension von

Dr. Benjamin Krenberger

Kindeswohl Einen neuen Roman von Ian McEwan in der Hand zu haben, ist schon per se ein Qualitätsversprechen. Eine lang durchdachte, auf nachvollziehbaren Fakten basierende, dennoch aber ganz eigenständige Fiktion, weil sie über das zugrunde liegende reale Ereignis weitere Konflikte der Protagonisten legt. Im neu vorliegenden Roman ist Fiona Maye, Familienrichterin am High Court in London, mit zahlreichen komplizierten Fällen beschäftigt und vernachlässigt deswegen ihren Mann ein wenig. Dieser, wie sie ca. 60 Jahre alt, konfrontiert sie daraufhin mit seinem Wunsch, eine Affäre zu haben, um seinen frustrierten sexuellen Interessen Genüge zu tun. Dass es auch ein Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit seiner in ihren Fällen versunkenen Frau ist, kommt im Laufe von Fionas Selbstreflexionen aber durchaus zum Vorschein. Mitten in der Auseinandersetzung erreicht Fiona dann die Mitteilung, dass ein Eilfall bei Gericht vorliege, sodass der eheliche Streit zunächst unausgegoren bleibt. Im konkreten Fall geht es um ein klassisches juristisches Problem und Dilemma: die Abwägung scheinbar gleichrangiger Grundrechte, nämlich das der Religionsfreiheit gegen das Recht auf Leben bzw. die Menschenwürde. Adam ist 17 Jahre alt und Zeuge Jehovas. Die Behandlung seiner Leukämie-Erkrankung würde eine Bluttransfusion erfordern, die er und seine Eltern aus religiösen Gründen ablehnen. Eine solche Fallgestaltung ist auch in der juristischen Ausbildung in Deutschland als Prüfungsproblem bekannt, wenngleich das Vorkommen in der Praxis natürlich nicht allzu häufig vorliegt. Nachdem es sich hier aber um das englische Rechtssystem handelt, bietet McEwan dem Leser den fantastischen Service, mit wenigen, aber präzisen Erläuterungen die englische Rechtsfindung nahe zu bringen, sodass man Fionas Überlegungen, Recherchen und späteren Argumenten problemlos folgen kann. Schon das ist eine faktische Höchstleistung eines fachfremden Autors. Fiona hört nun alle Beteiligten an, dazu den jungen Adam und trifft sodann eine ihrer bisher schwierigsten Entscheidungen. Dass der Fall sie aber noch lange nicht loslässt, ahnt der Leser bereits. Fiona ihrerseits muss nun wieder die normale berufliche Belastung, ihr musikalisches Engagement in ihrer Freizeit und das Zusammenleben mit ihrem von seiner Affäre zurückgekehrten Ehemann meistern - ein Spagat, der dem Leser ganz eindringlich vorgeführt wird. Noch dazu nimmt Adam Kontakt zu ihr auf. Nahezu unbemerkt vergehen einige Wochen und Monate bis dann am Ende ein versteckter Showdown alle Probleme wieder nach oben kehrt und zu einer inhaltlich wie emotional plausiblen und akzeptablen Lösung der Geschichte führt - die natürlich nicht vorweggenommen werden darf. Wenn man das Buch als Jurist liest, ist das Ende bereits klar, auch weil die reale Vorlage für den Roman durch McEwan ja bereits vorab mitgeteilt worden war. Aber auch der rechtlich nicht geschulte Leser ahnt den drohenden Konflikt. Warum ist das Buch aber dennoch ein großartiges Stück Literatur? Weil McEwan ganz außergewöhnlich feinfühlig das eigentlich Innere der Handelnden zum Gegenstand des Romans macht, der in den äußeren Umständen nur eine Art Gerüst findet. Das betrifft aber nicht nur die Debatte Religionsfreiheit vs. Lebensrecht oder den Umgang mit einem provozierten Ehebruch, der im Gegensatz zur langjährigen fürsorglichen Liebe zueinander gipfelt. Sondern ganz beeindruckend ist - das natürlich auch, weil mir dieser Konflikt persönlich bekannt ist, wie McEwan es darstellt, dass der entschiedene Fall zurück zur Richterin Maye gelangt, nämlich in ihre Gefühlswelt. Sie entscheidet den Fall natürlich nicht gefühlslos, aber eben als Richterin, nicht als Mensch. In der Robe vertritt sie allein das Recht, hier auszurichten am ausfüllungsbedürftigen Begriff des „Kindeswohls“, der auch im deutschen Rechtssystem sehr dehnbar ist. Als Adam sie aber später kontaktiert und sie sich auf einmal als Person, als Mensch, mit ihm als Mensch, nicht nur als Fall, auseinander setzen muss, verschwimmen gerade diese Grenzen, die man als Jurist hinter sich lassen muss, wenn man über das Schicksal Dritter entscheidet. Es gibt für diese Situation kein richtig oder falsch und genau aus dieser Problematik muss sich Fiona Maye ganz alleine herausmanövrieren. Wie dies geschieht und mit welchen Konsequenzen sie dann letzten Endes leben muss, wird auf eine ganz subtile, leise und überzeugende Weise beschrieben. Hinzu kommt natürlich, dass sich immer wieder sprachliche Schmuckstücke finden, selbst in der deutschen Übersetzung (die nur einen einzigen Negativpunkt hat, wenn nämlich ein Flügel, auf dem Fiona spielt, mit „Steinweg“ übersetzt wird, obwohl die „Steinway“ Klaviere nie unter dem ursprünglich deutschen Namen des Firmengründers zu Weltruhm gelangten). Etwa wenn gleich zu Beginn der Name der Liebschaft von Fionas Mann, „Melanie“ mit der ähnlich klingenden todbringenden Hautkrank verglichen wird. Ein herrlicher Coup. Deshalb mein klares Fazit: ein sehr lesenswerter Roman, ein berührendes Thema, eine feinfühlige Umsetzung und ein weiterer Beweis von McEwans großartigen schriftstellerischen Fähigkeiten.

Einen neuen Roman von Ian McEwan in der Hand zu haben, ist schon per se ein Qualitätsversprechen. Eine lang durchdachte, auf nachvollziehbaren Fakten basierende, dennoch aber ganz eigenständige Fiktion, weil sie über das zugrunde liegende reale Ereignis weitere Konflikte der Protagonisten legt. Im neu vorliegenden Roman ist Fiona Maye, Familienrichterin am High Court in London, mit zahlreichen komplizierten Fällen beschäftigt und vernachlässigt deswegen ihren Mann ein wenig. Dieser, wie sie ca. 60 Jahre alt, konfrontiert sie daraufhin mit seinem Wunsch, eine Affäre zu haben, um seinen frustrierten sexuellen Interessen Genüge zu tun. Dass es auch ein Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit seiner in ihren Fällen versunkenen Frau ist, kommt im Laufe von Fionas Selbstreflexionen aber durchaus zum Vorschein. Mitten in der Auseinandersetzung erreicht Fiona dann die Mitteilung, dass ein Eilfall bei Gericht vorliege, sodass der eheliche Streit zunächst unausgegoren bleibt. Im konkreten Fall geht es um ein klassisches juristisches Problem und Dilemma: die Abwägung scheinbar gleichrangiger Grundrechte, nämlich das der Religionsfreiheit gegen das Recht auf Leben bzw. die Menschenwürde. Adam ist 17 Jahre alt und Zeuge Jehovas. Die Behandlung seiner Leukämie-Erkrankung würde eine Bluttransfusion erfordern, die er und seine Eltern aus religiösen Gründen ablehnen. Eine solche Fallgestaltung ist auch in der juristischen Ausbildung in Deutschland als Prüfungsproblem bekannt, wenngleich das Vorkommen in der Praxis natürlich nicht allzu häufig vorliegt. Nachdem es sich hier aber um das englische Rechtssystem handelt, bietet McEwan dem Leser den fantastischen Service, mit wenigen, aber präzisen Erläuterungen die englische Rechtsfindung nahe zu bringen, sodass man Fionas Überlegungen, Recherchen und späteren Argumenten problemlos folgen kann. Schon das ist eine faktische Höchstleistung eines fachfremden Autors. Fiona hört nun alle Beteiligten an, dazu den jungen Adam und trifft sodann eine ihrer bisher schwierigsten Entscheidungen. Dass der Fall sie aber noch lange nicht loslässt, ahnt der Leser bereits. Fiona ihrerseits muss nun wieder die normale berufliche Belastung, ihr musikalisches Engagement in ihrer Freizeit und das Zusammenleben mit ihrem von seiner Affäre zurückgekehrten Ehemann meistern - ein Spagat, der dem Leser ganz eindringlich vorgeführt wird. Noch dazu nimmt Adam Kontakt zu ihr auf. Nahezu unbemerkt vergehen einige Wochen und Monate bis dann am Ende ein versteckter Showdown alle Probleme wieder nach oben kehrt und zu einer inhaltlich wie emotional plausiblen und akzeptablen Lösung der Geschichte führt - die natürlich nicht vorweggenommen werden darf.

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Hinzu kommt natürlich, dass sich immer wieder sprachliche Schmuckstücke finden, selbst in der deutschen Übersetzung (die nur einen einzigen Negativpunkt hat, wenn nämlich ein Flügel, auf dem Fiona spielt, mit „Steinweg“ übersetzt wird, obwohl die „Steinway“ Klaviere nie unter dem ursprünglich deutschen Namen des Firmengründers zu Weltruhm gelangten). Etwa wenn gleich zu Beginn der Name der Liebschaft von Fionas Mann, „Melanie“ mit der ähnlich klingenden todbringenden Hautkrank verglichen wird. Ein herrlicher Coup.

Deshalb mein klares Fazit: ein sehr lesenswerter Roman, ein berührendes Thema, eine feinfühlige Umsetzung und ein weiterer Beweis von McEwans großartigen schriftstellerischen Fähigkeiten.

geschrieben am 31.01.2015 | 731 Wörter | 4379 Zeichen

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